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Wo ist Mamdur?

An der ungarischen Grenze zu Serbien drängt die Polizei Flüchtlinge in ein Anhaltelager, wo sie registriert werden. Dabei setzt die Staatsgewalt auf maximale Demütigung.

Wo die ungarische Grenze zu Serbien in Stacheldraht ausfranst, sucht ein Vater nach seinem Sohn. „Mamdur! Mamdur“, ruft der Mann aus Syrien. Im Morgengrauen stolpert er durch das Auffanglager von Röszke und rüttelt an den Zelten. „Mamdur! Mamdur!“

Reißverschlüsse öffnen sich, aus den Zelten lugen schlaftrunkene Köpfe. Man weiß, dass Mamdur, acht Jahre alt, Wuschelkopf, weißes T-Shirt, gelbe Hose, seit 24 Stunden vermisst wird. Dass sein Vater ihn hier sucht, ist ein Ausdruck der Hilflosigkeit: Die anderen hätten Bescheid gegeben, wäre der Bub aufgetaucht. Alle wollen dem verzweifelten Mann helfen, aber keiner weiß so recht, wie. Am Ende rufen fünf Leute gleichzeitig nach Mamdur.

Für: NZZ.at, 11. September 2015

Die Chancen, das vermisste Kind hier zu finden, sind gleich null. Das Auffanglager ist chaotisch, aber überschaubar. Ein paar hundert Zelte stehen links und rechts der Rumpelpiste, die parallel zur stachdrahtbewehrten Grenze verläuft. Dazwischen TV-Übertragungswägen, ein Erste-Hilfe-Lager der ungarischen Caritas und ein Zelt der islamischen Glaubensgemeinschaft, die warmen Tee in Plastikbechern verteilt. Entlang der Straße patrouillieren Polizisten, die mit Geländewägen und Bussen gekommen sind.

In dem Auffanglager können sich die Flüchtlinge noch frei bewegen, Hilfsorganisationen kümmern sich um die Angekommenen. Die Polizei zeigt hier nur Präsenz, greift aber nicht ein. Aufgabe der Uniformierten ist es, die Asylwerber dazu zu bringen, in das 500 Meter entfernte eingezäunte Erstaufnahmelager zu gehen. Dort werden sie per Fingerabdruck registriert. Damit gelten sie nach den Dublin-Regeln als Asylwerber in Ungarn.

Das wollen die wenigsten – am Ende bleibt den Flüchtlingen aber keine andere Wahl. Von Röszke aus gibt es praktisch kein Entkommen, das Niemandsland an der Grenze wird von Spezialeinheiten gesichert.

Über die Gleise nach Ungarn

Röszke, unweit der Universitätsstadt Szeged, ist für hunderttausende Flüchtlinge das Nadelöhr zwischen Serbien und Ungarn. Alleine am Mittwoch haben hier mehr als 3.000 Menschen den Checkpoint passiert. Die 170 Kilometer lange Grenze zwischen Ungarn und Serbien ist seit Wochen mit einem anderthalb Meter hohen Stacheldrahtzaun gesichert, zusätzlich patrouillieren durchgehend Polizisten. Der einzige legale Weg führt über die Bahngleise. Auf diesen marschieren die Flüchtlinge nach Ungarn.

Zwar will niemand von ihnen dort bleiben – es hat sich herumgesprochen, dass die Aussichten auf Asyl dort minimal und die Zustände in den Massenlagern für Asylwerber katastrophal sind. Doch über Ungarn geht die wichtigste Route Richtung Österreich, Deutschland und Skandinavien; also in jene Länder, in denen die Asylwerber am ehesten eine Chance sehen, sich eine Existenz aufzubauen.

Abschreckung um jeden Preis

Orbáns erklärtes Ziel ist es, den Flüchtlingsstrom über Kroatien umzuleiten. Dass die ungarische Exekutive dazu die Vertriebenen nach Kräften demütigt, scheint für ihn ein Mittel zum Zweck. Man rechne damit, dass „einige brutale Wochen der Preis dafür sind, dass letztlich Ruhe einkehrt“, schreibt das ungarische Nachrichtenportal VS.hu unter Berufung auf Regierungsquellen.

Da kommen die Bilder der humanitären Katastrophe in Röszke nicht ungelegen. Journalisten, Fotografen und Kameraleute können ungehindert arbeiten und das brüskierende Vorgehen der Polizei dokumentieren. Nur der Zugang zum Erstaufnahmezentrum bleibt Außenstehenden verwehrt.

Wie findet man ein kleines Kind?

Im Auffanglager sucht der syrische Vater noch immer nach Mamdur. Seine Stimme wird dünner, aber er hört nicht auf zu rufen. Inzwischen hat sich ihm Anna, eine junge deutsche Aktivistin, angeschlossen. Sie wirkt nicht minder hilflos. „Keine Ahnung, was ich tun soll, ich habe noch nie ein Kind gesucht“, sagt sie. „Und die Polizisten rühren keinen Finger.“

Auch die Hilfsorganisationen vor Ort sind überfordert. „Viele hier haben jemanden verloren“, sagt ein Caritas-Mitarbeiter. „Sehen Sie den Mann da drüben? Der hat seine ganze Familie verloren.“ Aber ist es nicht etwas anderes, wenn ein kleines Kind zwischen den Maisfeldern verloren geht – bei Temperaturen, die in der Nacht unter fünf Grad fallen?

Bahngleise zwischen Röszke und Horgos

Anna aus Deutschland teilt sich mit zwei anderen Aktivistinnen eine Zigarette. Es sei, sagt sie, so gut wie ausgeschlossen, dass der Bub noch hier im Lager sei. Inzwischen seien alle informiert. Es sei auch unwahrscheinlich, dass er entlang der Gleise zurück nach Serbien gegangen sei: Irgendeine Familie hätte ihn bestimmt mitgenommen.

„Ich bin nur ein Polizist“

Ein Polizist erklärt sich nach kurzem Zögern bereit zu reden. Seinen Namen nennt er nicht. Wie die meisten Polizisten spricht er kein Englisch, aber er kann ein wenig Deutsch.

„Hier sucht ein Vater seit 24 Stunden seinen Sohn.“

– „Ja, ich weiß.“

„Können Sie dem Mann nicht helfen?“

– „Hier sicher nicht. Nur wenn er in das Camp geht.“

„Kann es sein, dass sein Sohn schon im Camp ist?“

– „Möglich. Oder er ist woanders.“

„Würde die ungarische Polizei Kinder ohne Wissen ihrer Eltern in das Camp bringen?“

– „Dazu kann ich nichts sagen.“

„Würden Sie der Aussage zustimmen, dass hier eine humanitäre Katastrophe stattfindet?“

– „Ich bin nur ein Polizist. Nur ein Polizist. Ich habe seit 26 Stunden nicht geschlafen und ich bin hungrig.“

Dass ein Kind verloren gegangen ist, hat sich auch im nahen Erstaufnahmezentrum herumgesprochen. Doch zumindest von den Neuankömmlingen hat keiner Mamdur gesehen. Vor dem Eingang warten Flüchtlinge, die in der letzten Nacht angekommen sind – und für die es noch keinen Schlafplatz in der überfüllten Zeltstadt gibt. Sie sind zwar nicht hinter Stacheldraht eingesperrt. Doch ringsum stehen Polizisten, die ein Ausbrechen nahezu unmöglich machen. Wer erst einmal eingewilligt hat, ins Lager zu gehen, muss dort bleiben.

Zum Scheitern verurteilte Fluchtversuche

Daher versuchen immer wieder Flüchtlinge, den dichten Polizeikordon zu durchbrechen und sich zu Fuß die mehr als 300 Kilometer bis nach Österreich durchzuschlagen. Ein aussichtsloses Unterfangen – noch jeder Versuch wurde von den Spezialtruppen gestoppt.

Schon jetzt gleicht Ungarn in Röszke einem Polizeistaat: Hundertschaften an martialisch gepanzerten Polizisten durchkämmen die Gegend, Hubschrauber und Drohnen sollten Entflohene ausfindig machen.

Und dennoch versuchen sie es am Mittwoch wieder. Junge, Alte, Eltern mit Säuglingen im Arm marschieren zur nahen Autobahn, wo sich ihnen Spezialtruppen entgegenstellen. Mittlerweile ist jeder Ausbruchsversuch ein Medienereignis: Journalisten und Fotografen aus aller Welt dokumentieren das Drama von Röszke.

Gut zehn Minuten lang stehen einander Flüchtlinge und Spezialeinheiten mit Pfefferspray und Gummiknüppeln gegenüber. Ein Polizist klopft im Takt mit dem Schlagstock gegen den Ellbogenschützer. Als könne er das Kommende kaum erwarten.

Dann brechen die Flüchtlinge aus. Sie laufen über die Autobahn zu einer Wiese, die durch einen hohen Maschendrahtzaun abgesperrt ist. Nach kurzem Zögern klettern die ersten über den Zaun. Die jungen Männer schaffen es mit links, andere scheitern immer wieder – oder haben Angst vor dem Hindernis.

„Jalla! Jalla!“

Ein Vater klettert auf den Zaun, dann hebt er seine vierjährige Tochter auf die andere Seite, wo Helfer sie auffangen. Die größere Tochter scheitert am Zaun, sie beginnt laut zu weinen. In der Zwischenzeit überwindet die Mutter das Hindernis. Das Mädchen weint immer lauter. „Jalla! Jalla“, ruft der Vater. Aber sie traut sich nicht mehr. Der Vater reicht ihr die Hand und zieht sie nach oben, ein britischer Fotograf läuft zum Zaun und hilft von unten nach. Irgendwie schaffen es alle auf die andere Seite, wo sie in Richtung eines kleinen Wäldchens laufen.

Ein anderes Paar sucht nach einem Durchgang im Zaun. Die Frau hält einen Säugling im Arm. „Zwölf Tage“, ruft der Mann. „Mein Kind ist zwölf Tage alt!“

Am Waldrand wartet die Polizei. Sie bildet einen Kessel und treibt die Flüchtlinge zusammen. Am Ende gehen alle wieder zurück – oder sie steigen in die Busse zum Registrierungslager. „Wir haben es zumindest versucht“, sagt ein Iraker.

Mamdurs Vater ist ins Lager gegangen

Der syrische Vater war nicht unter Fliehenden. Er habe, so erzählt ein Rot-Kreuz-Mitarbeiter im Auffanglager, noch einige Zeit erfolglos nach seinem Sohn Mamdur gesucht und sich dann freiwillig ins Lager begeben – in der Hoffnung, ihn zu finden. Hier verliert sich die Spur des Mannes.

Der Helfer fasst sich kurz, er habe nicht viel Zeit. Vor seinem Zelt wartet ein weiterer verzweifelter Mann, der Frau und Kinder sucht.

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