Unter der Brücke

Viele Obdachlose schlagen Hilfsangebote aus und leben im Winter auf der Donauinsel. Eine Nacht mit fünf Aussteigern.

Foto: Mario Baumgartner

Augen zu und durch“, sagt Helmut. „Geh! Aber pass auf die Augen auf.“ Ich habe mich im dornigen Gestrüpp auf der Donauinsel verheddert. Es ist früher Abend, stockdunkel, nur vom anderen Ufer der Donau her glitzert die Großstadt. Helmut leuchtet mit einer Taschenlampe in meine Richtung. „Durchgehen“, ruft er. „Aber pass auf die Augen auf.“ Ich hebe meinen Arm vor das Gesicht und reiße mich los. „Gemma!“, sagt Helmut. Er führt mich zu einem armdicken Baumstamm, den der Wind geknickt hat. Brennholz. Ich soll ihn zum Lager schleifen. Auch Gerry, der an der rechten Hand keine Finger mehr hat, kämpft mit den Dornen. „Pass auf die Augen auf“, ruft Helmut ihm zu.

Für NZZ.at, Dezember 2015

Unter einer Brücke auf der Donauinsel verbringen fünf Obdachlose den Winter. Eine Feuerstelle, ein Windschutz, ein Schlaflager. Die Männer kennen einander seit vielen Jahren. Sie sind eine eingeschworene Truppe, die auf ein warmes Bett in einem betreuten Quartier pfeift. Ihre Lebensläufe sind verschieden und gleichen einander doch. Alle haben sich eine Zeit lang bemüht, ein geregeltes Leben zu führen: Wohnung, Beziehung, Job. Alle sind daran gescheitert. Sie sind zu dem trotzigen Schluss gekommen, dass der Fehler nicht bei ihnen lag. Sondern an der Gesellschaft: an deren geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen; an der Notwendigkeit, zu funktionieren. Dinge zu tun, die man nicht tun möchte. „Straßenkojoten“ nennen sich die Männer.Ich will sie eine Nacht lang begleiten. Den Kontakt hat Susanne Peter, eine Sozialarbeiterin der Caritas, hergestellt. Jede Woche fährt sie auf die Donauinsel, wo dutzende Obdachlose den Winter verbringen. Nicht alle wollen mit ihr reden. Viele leben in völliger Isolation: in Zelten, Erdlöchern, öffentlichen Toiletten. Manchmal dauert es Jahre, bis jemand zu Peter Vertrauen aufbringt. Andere bleiben bis zu ihrem Tod unentdeckt. Auch in Wien erfrieren Menschen, die Hilfsangebote ausschlagen.

Foto: Mario Baumgartner

Die fünf Männer unter der Brücke gehören zu Peters einfacheren Klienten. Sie freuen sich über das Interesse und reden gern. Wenn die Caritas-Mitarbeiterin vorbeikommt, wird sie freundlich empfangen. Sie bringt winterfeste Schlafsäcke mit, feste Schuhe und saure Vitaminpillen für das Immunsystem.

 Bald nach meiner Ankunft hat mir Helmut angeboten, ihn beim Holzsammeln zu begleiten. Fünf Minuten dauert der Weg vom Lager zu einem kleinen Waldstück, in dem die Männer nach Brennbarem suchen: Äste, kleine Bäume, die umgefallen sind. Gelegentlich stoßen sie auf Überreste von Biberbauten. Mir fällt auf, mit welcher Ernsthaftigkeit Helmut und die anderen ans Werk gehen. „Wir arbeiten“, sagt er. Er fühlt sich im Einklang mit der Natur. Verheizt werde bloß, was der Wald freigibt. „Ich möchte meinen Kindern eine saubere Umwelt hinterlassen“, sagt Helmut.

Das ist einer der Gründe, warum die Männer auf der Insel bis auf Weiteres geduldet sind, obwohl Campieren und Feuermachen eigentlich untersagt sind. Sie achten darauf, wenig Müll zu produzieren – und keine Scherereien.

Im März, wenn Putzkolonnen des Magistrats die Insel durchkämmen, werden sie den Platz räumen müssen. Dann gehört die Donauinsel wieder den Joggern und Familien. Nur im Winter, wenn es zu unwirtlich ist für Ausflüge, bleibt sie Zufluchtsort der Unbehausten.

Im März, wenn Putzkolonnen des Magistrats die Insel durchkämmen, werden sie den Platz räumen müssen. Dann gehört die Donauinsel wieder den Joggern und Familien. Nur im Winter, wenn es zu unwirtlich ist für Ausflüge, bleibt sie Zufluchtsort der Unbehausten.

Wir schleifen das Holz zum Lager, wo wir den Baumstamm im Licht des Lagerfeuers mit einer Handsäge zerteilen und spalten. Helmut wirft ein paar Stücke ins Feuer. Zuvor schält er die Rinde ab. „Dann raucht es weniger“, sagt er. „Habe ich auch erst vor kurzem herausgefunden.“

© Mario Baumgartner

Das Lager würde als Pfadfindercamp durchgehen, als Abenteuer für Städter, die eine Auszeit vom Trubel des Alltags suchen. Wären da nicht die dreckige Kleidung. Der Tee mit 80-prozentigem Rum, den die Männer unentwegt trinken. Die Tatsache, dass den meisten Zähne fehlen. Die aufgesetzt wirkenden Beteuerungen, dass sie freiwillig hier hausen.

Helmut ist 40 Jahre alt, er lebt seit 15 Jahren auf der Straße. Er ist ein Rom. „Ein Zirkuskind.“ Aufgewachsen in einer Großfamilie, der Vater saß in jungen Jahren wegen Totschlags in Haft. Wieder in Freiheit, habe er sich für seine Familie zu Tode gerackert, buchstäblich. Helmuts Vater wurde 55 Jahre alt. Auch er war im Knast, insgesamt elf Jahre. „Immer nur Kleinigkeiten“, sagt er. „Eine Watschen im Wirtshaus, ein paar Gramm Gras. Das hat sich zusammengeläppert.“

„Eine Watschen im Wirtshaus, ein paar Gramm Gras. Das hat sich zusammengeläppert.“

Helmut

Seit sieben Jahren ist er unbescholten – aber obdachlos. Seine beiden Töchter sind erwachsen, gerade wurde er zum zweiten Mal Opa. Manchmal, erzählt er, käme seine jüngere Tochter hier unter der Brücke vorbei. Das sei jedes Mal ein Spaß. Dann knipse sie Fotos mit dem Handy und ziehe ihn auf. Als sei die Obdachlosigkeit eine harmlose Marotte. „Sie fühlt sich wohl hier und würde am liebsten bleiben“, sagt Helmut und lacht. Er ist überzeugt: Manch biederer Familienvater würde gerne die warme Stube mit der Männerfreiheit unter der Brücke tauschen – zumindest eine Zeit  lang.

Das glaubt auch Adi, den alle hier den Perser nennen, weil seine Mutter aus dem Iran kommt. Adi ist 39 Jahre alt, er hat einen sorgfältig gestutzten Bart und neugierige Augen. Seine Formulierungen sind gewählt, der Akzent nasal. „Wir haben nicht in das System gepasst“, sagt Adi. „Jetzt haben wir uns gefunden und sind glücklich.“

Das glaubt auch Adi, den alle hier den Perser nennen, weil seine Mutter aus dem Iran kommt. Adi ist 39 Jahre alt, er hat einen sorgfältig gestutzten Bart und neugierige Augen. Seine Formulierungen sind gewählt, der Akzent nasal. „Wir haben nicht in das System gepasst“, sagt Adi. „Jetzt haben wir uns gefunden und sind glücklich.“

Foto: Mario Baumgartner

Adi wurde nahe Graz geboren. Gehobenes Bürgertum, Gymnasium. Viele Fragen an das Leben, keine Antworten. Das Architekturstudium bricht er bald ab. Er reist viel und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Dann heuert er bei Leuten an, vor denen man sich besser fernhalten sollte: Zuhälter, Kredithaie.

Wer seinen Auftraggebern Geld schuldete, machte Bekanntschaft mit Adi. Der stand oft mit einer Waffe vor der Tür das säumigen Schuldners. „Jeder Gauner hat Handlanger und jeder Handlanger hat einen Trottel, der für ihn die Drecksarbeit erledigt. Dieser Trottel war ich“, sagt Adi.

Lange ging das nicht gut. Als er im Gefängnis saß, wurde seine Tochter geboren. Wieder draußen, wollte er ein neues Leben beginnen. Aber das hat er nicht hinbekommen. „Es wird einem nicht leicht gemacht, wenn man aus dem Gefängnis kommt.“ Zumindest von seinen früheren Auftraggebern hat er sich ferngehalten.

Heute predigt er Gewaltlosigkeit und Konsumverzicht. „Behandle jeden Menschen so, wie du selbst behandelt werden möchtest“, sagt Adi. Hier, in der Gruppe, fühlt er sich verstanden. Das Lager auf der Insel ist für ihn ein Refugium: vor der Hektik des Alltags, vor Situationen, in denen man nach der Pfeife anderer tanzen muss. „Wir sind wie eine Familie“, sagt Adi. „Geht es einem schlecht, leiden die anderen mit.“

Alex ist mit 46 einer der Älteren. In den neunziger Jahren tourte er mit einem Lastwagen durch ganz Europa und veranstaltete illegale Rave-Konzerte unter Brücken und in aufgelassenen Fabrikshallen. „Ich habe zehntausenden Menschen Freude bereitet“, sagt er. Nicht aber den Behörden. Auch er war im Knast.

Foto: Mario Baumgartner

Alex spricht viel vom „repressiven System“. Von „Herrschaftsstrukturen“ und „strukturellem Rassismus“. Wendungen, mit denen viele Linksalternative gedankenlos um sich werfen. Für ihn haben sie eine tiefere Bedeutung. „Es gibt ein Recht auf Freude“, sagt Alex. Er führt seinen Kampf weiter, auch wenn längst keiner mehr zu seiner Musik tanzt.

„Es geht mir gut“, sagt Alex.
– „Wirklich?“
„Jeder hat sein Binkerl zu tragen.“

Job, Beziehung, Alkohol, Wohnung. Wer auf der Straße landet, ist auf vielen Ebenen gescheitert und hat das Vertrauen in die Gesellschaft verloren. Wer sich auf Hilfe einlässt, riskiert, erneut enttäuscht zu werden. Das möchten viele nicht. Manche reagieren mit Scham: Sie verstecken sich und verweigern sogar Sozialleistungen, die ihnen zustehen. Bei anderen führt der Abstieg zu einer Trotzreaktion. Sie lehnen die Gesellschaft ab, in der sie aus mannigfaltigen Gründen gescheitert sind.

Die vielen Verletzungen haben alle auf die eine oder andere Art krank gemacht. Sucht, Depression, Persönlichkeitsstörungen, Schizophrenie spielen mit, wenn Obdachlose Angebote zur Wiedereingliederung ausschlagen. Die Entscheidung für ein Leben auf der Straße fällt niemand souverän.

Und doch ist es eine Entscheidung, die man respektieren muss. Der Staat kann und soll keinen dazu zwingen, in einem Bett zu schlafen, solange er keine Gefahr für andere darstellt und sich selbst nicht in Lebensgefahr bringt. Die Staatsgewalt darf erst einschreiten, wenn sich ein Obdachloser bei minus zehn Grad weigert, einen Schlafsack zu verwenden. Dann verliert er die Entscheidungsgewalt über das eigene Leben und kann zwangseingewiesen werden.

Das sind aber Einzelfälle. Die Männer unter der Brücke haben kein Problem damit, gelegentlich Hilfe anzunehmen. Sie haben warme Kleidung, Schlafsäcke und Essen. Einen kleinen Fußmarsch entfernt lebt ein Bekannter, der die Männer bei sich duschen lässt. Wer krank wird, nutzt eine e-card, um sich behandeln zu lassen. Alle beziehen Sozialleistungen. Manchmal bleiben hilfsbereite Jogger stehen. Unlängst fand Helmut neben seinem Schlafsack einen 20-Euro-Schein. Den hatte jemand hingelegt, während er schlief. Er und seine Freunde kommen über die Runden.

Foto: Mario Baumgartner

Aus einem Radio scheppert Weihnachtsmusik, Chris Rea, „Driving home for Christmas“. Der Geräuschpegel steigt, der Rum im Tee tut seine Wirkung. Die ausgelassene Stimmung kippt. „Wir sind im Arsch, aber wir haben uns“, sagt Helmut und gießt nach: zwei Drittel Tee, ein Drittel Rum. Dann erzählt er.

„Ich komme nicht mehr weg von der Insel.“
– „Warum?“
„Hier liegt mein Kind begraben.“

Vor einigen Jahren wurde seine Freundin schwanger. Sie lebte mit ihm unter der Brücke. Eines Tages hörte er sie im nahen Gebüsch schreien. Als er zu ihr kam, war sie blutüberströmt, sie hatte ihr ungeborenes Kind verloren. Susanne Peter, die Sozialarbeiterin, brachte die Frau ins Krankenhaus. In der Zwischenzeit begrub Helmut den Fötus.

„Es geht nicht“, sagt er. „Ich muss hierbleiben.“

Langsam fällt allen das Reden schwer. Noch ein paar Scheite Holz ins Feuer, dann verzieht sich die Truppe auf das Schlaflager aus Luftmatratzen und Decken.

Nicht nur der Alkohol macht müde. Auch das unregelmäßige Klackern der Autos, die von oben über die Brücke fahren, schläfert ein. Doch es ist ein leichter, unruhiger Schlaf.

Wenn dann gegen vier Uhr Früh die Temperatur fällt und Kälte in den Schlafsack kriecht, vergeht die Lagerfeuerromantik. Dann ist die Freiheit nicht mehr fröhlich, und die fünf Obdachlosen stimmen einen traurigen Chor an: ein fünfstimmiges Murmeln, Stöhnen, Seufzen und Zähneknirschen. Der Schlaf ist gnadenlos ehrlich und Albträume kennen keinen Schmäh. Wenn aber einer aus bösen Träumen hochschreckt, ist er zumindest beruhigt, die bekannten Geräusche der Freunde zu hören.

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