Der Qualitätsjournalismus, den sie meinen

Ausgerechnet der linksliberale Standard, der einmal eine österreichische New York Times sein wollte, legt Bundespräsident Van der Bellen falsche Worte in den Mund – um sich daraufhin über ihn zu echauffieren.

Reden wir über Medien in Österreich. Und ausnahmsweise nicht über Wolfgang Fellner oder Eva Dichand. Reden wir über den Standard, die Qualitätszeitung in Lachsrosa, die mal eine österreichische New York Times sein wollte. Es gab Zeiten, da habe ich mich mit WG-Kollegen darum gestritten, wer als Erster den Politikteil lesen darf. Aber das ist schon eine ganze Weile her.

Im Standard erschien gestern ein Kommentar von Conrad Seidl, ein Wien weithin bekannt als Bierpapst. Titel: „Van der Bellen führt Österreich ins politische Minenfeld“. Noch schärfer wird es im Vorspann, wo Seidl insinuiert, der Bundespräsident würde eine „De-facto-Kriegsteilnahme Österreichs“ anstreben. Der wolle nämlich als Oberbefehlshaber des Bundesheeres Soldaten in die Ukraine schicken.

Wie kam es dazu? Van der Bellen hat die Bundesregierung zuletzt zwei Mal aufgefordert, dem Beispiel andere neutraler Länder wieder Schweiz oder Irland zu folgen und Hilfe bei der Entminung von ukrainischen Schulen, Kinderspielplätzen und anderen zivilen Einrichtungen zu leisten.

Ich verstehe nicht, warum die Bundesregierung bei der Frage der Entminung immer noch zögert. (…) Unterstützung bei der Entminung ziviler Bereiche wie Wohnhäuser, Schulen, Kindergärten oder landwirtschaftlicher Gebiete widerspricht sicher nicht der österreichischen Neutralität, sondern ist eine humanitäre Angelegenheit“

Zitiert nach ORF.at

Ähnlich hat er sich zuvor beim Europarat-Gipfel in Reykjavík geäußert. Van der Bellen hat in dem Zusammenhang weder das „Soldaten“ noch „Bundesheer“ in den Mund genommen. Man muss schon sehr viel Fantasie aufbringen, um derlei aus seinen Worten herauslesen.

Oder Herbert Kickl heißen. Der Chef der russlandfreundlichen FPÖ meldete sich umgehend zu Wort und unterstellte Van der Bellen fälschlicherweise genau diese Absicht. Der Präsident gefährde die Neutralität, „wenn er meint, dass österreichische Soldaten in der Ukraine Minen entschärfen könnten„.

Daraufhin reagierte Verteidigungsministerin Claudia Tanner von der ÖVP, die sich die extrem rechte FPÖ seit einiger Zeit als möglichen Koalitionspartner schönredet. Man könne in der Ukraine nicht „zwischen einer humanitären und einer militärischen Entmannung unterscheiden“, erklärte sie. Ihre Amtskollegen in Bern oder Dublin scheinen zu wissen, dass zwischen Bachmut und – sagen wir mal einem Vorort von Kiew – gut 750 Kilometer liegen. Sie nicht. Aber darum geht es hier nicht. Auf jeden Fall, so paraphrasiert jedenfalls die Gratiszeitung Heute eine Aussage Tanners, werde Österreich keine Soldaten in die Ukraine schicken.

Komischerweise hatte sie genau das vor ein paar Monaten via Heute in den Raum gestellt. Aber gut, man kann seine Meinung ändern. Vor allem, wenn die FPÖ eine Landtagswahl nach der andern gewinnt. Abgesehen davon, wir erinnern uns: Van der Bellen hat nie von einem Einsatz des Bundesheeres gesprochen, diesen auch nur angedeutet.

Trotzdem schreibt Conrad Seidl: „Ginge es nach dem Oberbefehlshaber des Bundesheeres, sollten österreichische Soldaten lieber heute als morgen in die Ukraine aufbrechen.“ Der Bierpapst übernimmt offenbar die FPÖ-Propaganda. Bezeichnenderweise verzichtet er auf ein Zitat. Es gibt nämlich keines, das seine Argumentation stützte. Ein kurzer Anruf in der Pressestelle der Hofburg hätte gereicht. Man nennt das Recherche. Sie ist einer der Hauptgründe dafür, warum manche Menschen ziemlich viel Geld für ein Standard-Abo ausgeben.

Wie auch immer: Der Pressesprecher des Bundeskanzlers, Daniel Kosak twitterte den seltsamen Kommentar umgehend – was einige Beobachterinnen und Beobachter erstaunte. Immerhin ist es ein deftiger Frontalangriff auf den Bundespräsidenten, vor allem ein völlig ungerechtfertigter – was der Pressesprecher des Bundeskanzlers natürlich wissen musste. Conrad Seidl mag sich über diese Auszeichnung vom Ballhausplatz freuen. Die Glaubwürdigkeit seiner Zeitung verstärkt das nicht.

Wenn sich der Standard auch weiterhin als Qualitätszeichnung bezeichnen möchte, dann dann ist jetzt eine Stellungnahme und Richtigstellung fällig. Und bitte, bitte verzichtet künftig auf leere Titelseiten mit dem Hinweis, eine Haushaltsabgabe für den ORF gefährde die Qualität der Berichterstattung in den Zeitungen. Dann nimmt euch nämlich wirklich keiner mehr ernst.

Und das wäre in einer Situation wie der jetzigen wirklich brandgefährlich für die Demokratie.

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