Sagen, was ist

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Warum ich ein verdammt mulmiges Gefühl habe, wenn Zeitungen private Chats veröffentlichen.

Milan Kundera schildert in Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins eine Begebenheit in der ČSSR nach der Niederschlagung des Prager Frühlings. Die Russen waren einmarschiert, hatten das demokratische Experiment beendet und fast die gesamte tschechoslowakische Intelligenzija zur Zwangsarbeit am Bau verdonnert – zumindest jene, die sich zuvor exponiert hatten.

Aber das reichte noch nicht. Die Leute verehrten Vaclav Havel, Ludvík Vaculík und viele andere weiterhin. Das änderte sich erst, als die Nomenklatura Aufnahmen aus den verwanzten Wohnungen der Schriftsteller im Radio senden ließ. Das ganze Land konnte hören, wie sie nach dem fünften Bier in derben Worten über Freunde lästerten oder darüber klatschten, wer mit wem in wessen Abwesenheit im Bett war. Die besondere Perfidie lag darin, dass sich niemand dem Sog der Neugier entziehen konnte. Auch Kundera nicht, wenn er abends nach Hause kam und aus dem Blaumann schlüpfte.

Nein. Ich vergleiche das demokratische Österreich nicht mit einer kommunistischen Diktatur. Wir haben einen Rechtsstaat, Checks and Balances, Medien, die frei berichten können. Niemand muss, weil er oder sie über die Regierung schimpft, mit Repressionen rechnen.

Und ich komme trotzdem nicht umhin, immer wieder an dieses Kapitel zu denken. So ging es mir, als manch flapsige Chatnachricht von ÖVP-Politikern veröffentlicht wurden. Und jetzt, während private Flachsereien der grünen Spitzenkandidatin für die EU-Wahl aus dem Kontext gerissen in Zeitungen zitiert werden.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Es gibt gute Gründe, gewisse Chats öffentlich zu machen. Und zwar dann, wenn das öffentliche Interesse eindeutig höher zu bewerten ist als der Bruch des Briefgeheimnisses. Viele der Schmid-Chats zeigen, wie eine verschworene Clique von Funktionären die ihnen übertragene Macht missbraucht haben. Sie legen nahe, dass hier Gesetze gebrochen wurden. Es war richtig, sie zu publizieren. Einige andere betrafen die Privatsphäre von Thomas Schmid, teils die intimste. Sie waren halt lustig zu lesen, weil sie in das Bild passten, dass wir alle uns über ihn gemacht haben. Aber es gab keinen zwingenden Grund, sie öffentlich zu machen. Und wenn es diesen zwingenden Grund nicht gibt, dann ist die daraus folgende Verletzung der Privatsphäre ein Unrecht.

Und das ist es auch, wenn private Lästereien Lena Schillings über die Grünen (die noch dazu teils offenkundig ironisch waren und sich im Kontext relativieren) veröffentlicht werden. Wer hier widersprechen möchte, soll zuerst einmal einen Blick auf die eigenen WhatsApp-, Signal- oder SMS-Nachrichten der letzten zwei Wochen werfen und sich fragen, wie er oder sie einzelne Sätze argumentieren würde – wenn sie auf einmal für sich stehend öffentlich werden. Und ja: Auch Menschen, deren Berufsfeld die Öffentlichkeit ist, haben ein Recht darauf, im kleinen Rahmen Blödsinn zu schreiben. Vermutlich ist das Bedürfnis bei vielen von ihnen sogar noch größer, weil es ein Ventil braucht.

Ja: Lena Schilling hat in der Vergangenheit zweifellos Dinge gemacht, die – neben ihrer altersbedingten Unerfahrenheit – berechtigte Zweifel an ihrer Qualifikation für einen Job im EU-Parlament aufwerfen. Eine Unterlassungserklärung ist nicht nichts. Darüber zu berichten ist der Job von Journalistinnen und Journalisten. Aber, ganz ehrlich: Darüber würden wir heute schon längst nicht mehr reden, mit der Story schafft es eine Zeitung nicht, über Wochen den politischen Diskurs zu beherrschen.

Dass sich ein TV-Moderator gegenüber seinem Arbeitgeber rechtfertigen muss, weil er sich im Zuge einer schlüpfrigen und für beide Seiten völlig unpassenden Chatkonversation mit einer jungen Politikerin verdribbelt hat, ist keine Story. Allenfalls eine, die – anonymisiert – eine Diskussion darüber auslösen könnte, wie viel Nähe zwischen Politik und Journalismus noch gesund ist. Eine Diskussion übrigens, von der ich überzeugt bin, dass sie dringend geführt werden muss. Die aber in der Wiener Bussi-Bussi-Gesellschaft niemand wirklich führen will. Man empört sich lieber über ein paar blöde Chats. Dann zieht die Karawane weiter.

Bloß: Mit Rudolf Augsteins berühmtem Diktum Sagen, was ist, hat das beim besten Willen nichts zu tun.