Als vor fünf Jahren ein neuartiges Coronavirus um sich griff, reagierten Demokratien global, schnell und koordiniert. Wo bleibt diese Entschlossenheit im Kampf gegen die Seuche der Massenverblödung?
Eugène Ionesco, ein gebürtiger Rumäne, schrieb 1957 im französischen Exil ein kurzes, höchst amüsantes Theaterstück mit dem Titel Die Nashörner. Damals war es ein riesiger Erfolg, heute wird es selten aufgeführt – obwohl es kurzweilig ist, nicht schwer verständlich und aktueller denn je.
Bérenger, ein recht normaler Typ in einem recht normalen französischen Dorf, muss zusehen, wie sich alle anderen Leute, eine nach dem anderen, in Nashörner verwandeln, die brüllend durch die Straßen laufen. Bérenger ist angewidert, aber irgendwann haben sich wirklich alle seiner Freunde – auch die klügeren und gebildeteren – transformiert. Am Ende ist Bérenger der einzige Mensch und er kommt nicht umhin zu glauben, dass das Problem wohl bei ihm liegen muss.
Warum verwandeln sich die Menschen in brüllende Nashörner? Ionesco wollte den verstörenden Hurra-Patriotismus der Franzosen angesichts des Algerienkrieges beschreiben. Aber die Metapher trifft auch auf jede andere Form der kollektiven Entmenschlichung zu. Man kann das Stück auf die Deutschen und Österreicher unter Hitler umlegen. Oder auf einen Mob der ruandischen Volksgruppe der Hutu, die 1994 binnen 100 Tagen im gemeinsamen Blutrausch fast eine Million Tutsi und oppositionelle Hutu abgeschlachtet hat. Menschen, die 30, 40 Jahre lang ein unauffälliges, nicht einmal besonders schlechtes Leben geführt haben, verwandelten sich in Zombies: Sie nahmen eine Machete in die Hand und hackten Frauen die Brüste ab, um sie möglichst qualvoll verbluten zu lassen.
Zuvor hatten sie “Radio-Télévision Libre des Mille Collines” gehört, den mit Abstand populärsten Radiosender Ruandas. Einer der Moderatoren war Georges Ruggiu, ein junger belgischer Altenpfleger, der sehr links war und ein bisschen schüchtern. Weil er sich mit der schändlichen Kolonialgeschichte seines Landes beschäftigt hatte, fuhr er irgendwann nach Ruanda, wo er sich von der faschistischen Junta verführen ließ. Ruggio, der Antirassist war ein willkommenes Feigenblatt der Rassisten in Kigali, die Hitler gut fanden und die „Weisen von Zion“ lasen. Sie ersetzen bloß „Juden“ durch „Tutsi“. Das war keine große dialektische Herausforderung: Unter den Mördern fanden sich auch Intellektuelle, die das als eine Art dialektische Fingerübung betrachteten.
Es gibt Gerichtsakten, aus denen hervorgeht, wie ein normaler Arbeitsalltag von Ruggiu aussah: Er nahm einen Zug von seinem Joint, legte „Rape me“ von Nirvana auf und bellte ins Mikrofon: „An die Arbeit, Landsleute! Tötet die Kakerlaken!
Kakerlaken: Damit war die Minderheit der Tutsi gemeint. Auch Donald Trump bezeichnet seine Gegner manchmal so.
Die Leute wussten, was von ihnen verlangt wurde. Sie nahmen ihre Macheten und töteten. Nicht weil sie genuin böse waren. Sondern weil die Propaganda mächtig genug war, sie in Zombies zu verwandeln.
Über den Völkermord in Ruanda war der damalige US-Präsident Bill Clinton gut informiert. Einige seiner Berater sagten ihm, dass es eine einfache Möglichkeit gebe, das massenhafte Töten vielleicht nicht völlig zu stoppen, aber zumindest stark einzugrenzen. Man müsste bloß im benachbarten Kongo einen Störsender aufstellen, damit Radio Mille Collines nicht mehr empfangen werden kann. Man entschied sich im Weißen Haus dagegen. Hauptargument: Derlei wäre ein Anschlag auf die Medien- und Meinungsfreiheit.
Bill Clinton bezeichnete das Nichteingreifen in Ruanda später als schlimmsten Fehler seiner Amtszeit. Georges Ruggiu legte vor dem internationalen Strafgerichtshof ein umfassendes Geständnis ab (man kann sich den Prozess auf YouTube ansehen). Er verbüßte einige Jahre in einem tansanischen Gefängnis, heute lebt er irgendwo in Italien. Er geht gebückt wie der Glöckner von Notre-Dame und kann anderen Menschen nicht in die Augen sehen.
Ruggiu ist zum Islam übergetreten, was bemerkenswert ist: Denn es waren in vielen Fällen ruandische Muslime, bei denen verfolgte Tutsi Unterschlupf und Schutz vor den Mörderbanden fanden. Aus religiösen Gründen? Möglich. Vielleicht aber auch nur, weil die kleine muslimische Minderheit keine Zielgruppe für die Propaganda war. Radio Mille Collins interessierte sie nicht.
Der Völkermord in Ruanda ist vielleicht das erschreckendste Beispiel für kollektive Gehirnwäsche, die nicht mit Zwang, nicht mit Arbeitslagern und Peitschen verabreicht wurde. Man gab sich ihr freiwillig hin. Warum? Die Vorgängerregierung war schwach und korrupt, die Geheimdienste allgegenwärtig. Es herrschte ein Klima der Angst, man traute einander nicht über den Weg. Traditionelle Strukturen waren aufgebrochen, die alte Ordnung, in denen die Dorfältesten Konflikte lösten, indem sie alle Streitparteien dazu brachten, gemeinsam Bananenbier zu trinken und eine Einigung zu finden, war zerstört. Eine neue Ordnung, neue Autoritäten, die im Zweifel maßvoll urteilten, gab es nicht. Da war nichts mehr, worauf man sich einigen konnte. Und das obwohl Ruanda damals schon eines der reichsten und in mancherlei Hinsicht fortschrittlichsten Länder Afrikas war. Mit Armut, mit Verteilungskämpfen zwischen den tendenziell wohlhabenderen Tutsis und den tendenziell weniger gut gestellten Hutu lässt sich der Genozid nicht erklären. Das war allenfalls ein Nebenaspekt.
Historische Vergleich sind problematisch. Österreich, Deutschland, der demokratische Westen lassen sich nicht mit Ruanda in den frühen Neunziger-Jahren vergleichen. Wir sprechen von Rechtsstaaten mit weitgehend funktionierenden demokratischen Einrichtungen, mit vernünftiger Bildung, freier Presse, mit Regierungen, die – ob man sie mag oder nicht – sich im Großen und Ganzen an die Spielregeln der Demokratie halten. Es gibt keine politischen Gefangenen, auch wenn sich ein paar Nazis und Reichsbürger, die gegen das Gesetz verstoßen haben, als solche betrachten mögen. Es gibt keine Folter. Prügelnde Uniformierte müssen sich vor Gerichten verantworten, Zeitungen recherchieren frei und berichten über die Schandtaten.
Und trotzdem erleben wir eine Erosion all dessen, worauf sich frühere Generationen weitgehend einigen konnten – egal wo sie sich politisch verorteten. Ob es die Gewaltentrennung ist, der friedliche Machtwechsel, das Akzeptieren anderer Meinungen, der halbwegs anständige Umgang mit Minderheiten, die Ablehnung von Extremismus oder die Übereinkunft, dass das, was seriöse Medien berichten, grosso modo den Tatsachen entspricht. Dass es in der Gesellschaft zwar mächtige Stakeholder gibt, die ihre Interessen mitunter ruppig durchsetzen. Aber keine dunkle Verschwörung von Pädophilen, die Ministerien und Unternehmen nutzten, um Kinder zu kidnappen, deren Blut sie trinken. Dass demokratisch gewählte Politikerinnen und Politiker zumindest wenn es drauf ankommt, das Wohl der Bevölkerung im Auge haben – selbst wenn sie am Ende falsche Entscheidungen treffen.
Es gibt einen gesellschaftlichen Strukturwandel, bedingt durch die Digitalisierung und Sozialmediatisierung aller Lebensbereiche, die in rasender Geschwindigkeit vonstatten gehen. Zu schnell für die meisten.
Und dann ist da der Faktor Propaganda: aus Russland, dem Iran, China und demnächst – das steht zu befürchten – in bisher unvorstellbarem Ausmaß auch aus den USA. Let’s face it: Wir haben es mit einer internationalen Verschwörung gegen die Werte der Aufklärung, gegen die freiheitliche Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Idee der Menschenrechte zu tun. Man hat uns den Krieg erklärt.
Dieser Krieg wird nicht mit Nuklearsprengsätzen geführt. Auch die Panzer in der Ukraine, die Kamikaze-Drohnen, die Marschflugkörper sind zwar die grausamsten Waffen, aber nicht die wichtigsten. Die russischen Soldaten in der Ukraine sind Kanonenfutter, sie sollen eine Schneise freischießen, damit die Massenverblödungswaffe ihre volle Wirkung entfalten können: Sie führen zu einer Autoimmunerkrankung unserer Demokratien.
Das hat längst pandemische Ausmaße erreicht. Bloß: Anders als vor ein paar Jahren gibt es diesmal keine Krisensitzungen der politischen Verantwortlichen in den betroffenen Ländern. Keine Weltgesundheitsorganisation, die Strategien entwickelt und weder Kosten noch Mühen scheut, um Impfstoffe auf den Markt zu werfen. Keine Sondersendungen im Fernsehen, keine Ansprachen der Staatsoberhäupter an ihre Bevölkerungen. Keinen Lockdown, um eine weitere Ausbreitung der Krankheit zu verhindern oder wenigstens zu bremsen.
Australien verbietet die Nutzung von Social Media für Jugendliche unter 16 Jahren. Immerhin. Aber das ist in etwa so wirksam wie eine Maskenpflicht: Wahrscheinlich bringt es etwas, aber es ist gewiss kein Gamechanger. Schon gar nicht, wenn kein anderes Land nachzieht.
Noch sind die Nashörner in der Minderheit. Sie sind bloß laut und aggressiv, man kann sie nicht mehr übersehen: Auf der Straße, am Arbeitsplatz, oft auch in der Familie. Mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung ließen sie sich noch einhegen. Noch ist es möglich. Aber das erfordert Krisenpläne, ein koordiniertes Vorgehen aller demokratischen Kräfte, Geschlossenheit.
Während der Corona-Pandemie gab es große Übereinstimmung darin, dass nur die vorübergehende Einschränkung gewisser Freiheiten die Freiheit auf Dauer bewahren kann. Dass Infektionsherde erst isoliert werden müssen, ehe man sich wirksam behandeln kann.
Reden wir also über die Meinungsfreiheit – die einzige Freiheit, die Autokraten gelten lassen. Noch. Man soll sich keine Illusionen machen: Wenn sie einmal an der Macht sind, wird auch dieses Recht gekübelt. Man blicke nach Russland, China, Iran. Oder auf Elon Musk, der kein Geheimnis daraus macht, dass auch diese Freiheit für ihn durch das Gesetz des Stärkeren begrenzt ist. Die von Demokratien garantierte Vollmacht zum Dummschwätzen ist zum Einfallstor für die Feinde der Demokratie geworden. Wenn wir das große Ganze bewahren wollen, müssen wir es neu ausbuchstabieren und an die Erfordernisse der modernen Zeit anpassen. Mit Maß und Ziel, aber entschlossen.
Ja, das Gezeter der Nashörner wird ohrenbetäubend sein. Wir werden es aushalten. Noch geben wir hier in Europa den Ton an. Noch sind wir in der Mehrheit. Noch.
