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Wie ich lernte, Kärnten zu lieben

Wenn sich der Herbstnebel vom Wörthersee oder vom Faaker See oder vom Ossiacher See oder von weiß der Teufel welchem See legt, wird die Sicht klarer. Es ist ein gutes Land. Vor allem, wenn man weg ist.

Zum ersten Mal kam mir die Sache in den späten Achtzigern zu Ohren, zweite Klasse Volksschule. Die Lehrerin, die gerne Detschn verteilte und manchmal Kekse mit Marmelade in der Mitte, machte eines Vormittags ein bedeutungsschweres Gesicht. Es wird ein typischer Herbsttag gewesen sein, ein paar Wochen nach Schulbeginn, wahrscheinlich lagen draußen Kastanien im kränkelnden Gras. Ein Herbsttag wie jeder andere in einer Volksschule eines Dorfes oberhalb der Abstimmungszone in Kärnten.

Die Lehrerin zeichnete mit gelber und roter Kreide etwas auf die Tafel, was wie einer ihrer herzförmigen Kekse aussah, bloß dass unten der Spitz fehlte. Oben, links und rechts von dem Keks zeichnete sie Männchen mit freundlichen Gesichtern. Unten aber, im Süden, wuchsen grimmige Gestalten aus der Tafel. Die Bösewichte, das stellte sich heraus, wollten ein Stück des Kekses abbeißen. Aber das ließen die tapferen Mankalan nicht zu. Kärnten, das Bundesland, in dem ich geboren wurde und dessen Umrisse der Keks darstellen sollte, blieb frei und ungeteilt.

„Aha“, dachte ich mir.

Ich wurde in der Angelegenheit eine Weile nicht weiter belästigt, ehe ein junger Geschichtsprofessor am Gymnasium ein paar Eckdaten von den Ereignisse rund um die Volksabstimmung vom Jahr Neunzehnhundertzwanzig herunterbetete. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war es der 10. Oktober 1990, 70-Jahr-Jubiläum, es wird ihm vom Landesschulrat aufgetragen worden sein, davon zu erzählen, wie Soldaten des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen einst in Kärnten einmarschierten, was zum so genannten Abwehrkampf führte. Das war im November 1918, ein paar Tage nach Ende des Ersten Weltkrieges, den Österreich angezettelt und verloren hatte. Jugoslawien begehrte einen Nachschlag: Den südlichen Teil Kärntens, wo die meisten Leute damals Slowenisch sprachen. Aber die Alliierten wollten Ruhe und kamen auf die Idee mit der Selbstbestimmung: Die Menschen sollten selbst entscheiden, ob sie Eier, Milch und Speck lieber am Pogačarjev trg in Ljubljana oder am Klagenfurt Benediktinermarkt verkaufen wollten. Die Kärntner Landeshauptstadt war näher und man musste nicht über den Loiblpass. Die Leute wählten pragmatisch, egal ob sie Grias di oder Zdravo sagten, wenn sie einander begegneten. Südkärnten blieb bei Österreich.

„Aha“, dachte ich mir.

Es interessierte auch sonst in der Klasse keinen groß. Ebensowenig zu Hause, aber ich wurde angehalten, mich mit Gehässigkeiten über die Abwehrkämpfer im braunen Anzug voller Lametta zurückzuhalten. Bloß keine Empfindlichkeiten verletzen. Jene der Volksschullehrerin, von der ich später erfuhr, dass sie einer gewissen Weltanschauung zuneigte. Jene des Kameradschaftsbündlers, der mich mit Zigarette erwischte und umgehend verpetzte – aus Freude an der Denunziation, nicht aus Sorge um die Gesundheit. Jene bestimmter Verwandter, die Slowenen genauso wenig mochten wie Juden, Homosexuelle oder Rockmusiker mit langen Haaren. Mal geigte ich ihnen die Meinung, meist hielt ich die Goschn. Ich war noch nicht alt genug zum Wählen und verspürte schon Rückenschmerzen vom Bücken.

Der Abwehrkampf und die Sache mit der slawischen Minderheit im Land, die angeblich alles hatte und doch immer mehr begehrte: Das Thema kam am 10. Oktober hoch, bei runden Geburtstagen und wenn man nach der Gräberralley zu Allerheiligen mit Leuten redete, denen man sonst aus dem Weg ging. Im Alltag war der Nationalitätenkonflikt aber kein Thema. Wenn am späteren Nachmittag auf Radio Kärnten eine Stunde lang slowenisches Programm gesendet wurde, drehte man in meiner Familie weiter oder schaltete das Gerät aus. Nicht aus Ablehnung, sondern weil man kein Wort verstand. „Leider“, hieß es in meinem bürgerlichen Elternhaus. Dieses „Leider“ war der Grund, warum ich mich mit 14 Jahren zu einem Slowenischkurs an der Schule anmeldete, der außerhalb des zweisprachigen Gebietes halbherzig als Freifach angeboten wurde. Der Lehrgang kam nie zustande. Slowenisch galt als uncool. Außer mir gab es eine einzige andere Anmeldung, eine Schülerin aus der Klasse unter mir. Was wohl ihre Gründe waren? Ich habe sie nie darauf angesprochen, es war mir nicht wichtig genug. Dann eben Französisch.

Man pflegt in Kärnten generell nicht viel über Dinge zu reden, die irgendwie vertrackt sind, die man nicht so leicht fassen kann. Vom Glitschigen lässt man die Finger. Und von allem, womit man sich weh tun könnte. Man sucht das sichere Terrain und spricht am liebsten über Autos. Wie sich Hansi mit seinem GTI derschlagen hat, das muss gewesen sein, da hab ich den weißen Fiat gehabt. Zwanzig Jahre wird das schon her sein, weil im November 2000 hab ich den Audi gekauft. Das ist nicht böse gemeint, es wirkt bloß für Außenstehende befremdlich und für Leute, die etwas empfindsamer sind. Die halten sich entweder die Ohren zu oder sie stellen sich auf die Hinterbeine. Besonders in den Haider-Jahren war Kärnten eine gute Schule für zivilgesellschaftliches Engagement: Man lernte, mit Gegenwind umzugehen. Das galt umso mehr für Leute, die sich zu ihrer slowenischen Identität bekannten.

In den frühen Nullerjahren wurden in Kärnten keine zweisprachigen Ortstafeln mehr ausgerissen, immerhin. Aber die einsprachigen wurden umgetopft, damit die Höchstrichter aus Wien keine slowenischen Ortsnamen draufschreiben lassen konnten. Dagegen protestierten Studierende und ein paar linke Lehrende an der Universität Klagenfurt. Vor dem Haupteingang stellten sie eine zweisprachige Ortstafel hin: „Universität Klagenfurt / Univerza v Celovcu“ stand drauf. Jörg Haider tobte und schasselte die Verantwortlichen wie Rotzlümmel ab. Ich bekam eine Ahnung davon, was Macht bedeutet: zu bestimmen, was erwachsenes Verhalten ist und was nicht.

Irgendwann hatte ich die Schnauze voll und zog nach Wien. Das war auch so um den 10. Oktober herum, ein Jahr nachdem sich Jörg Haider in seinem Phaeton V6 derschlagen hatte. Meinen Rover 216 hatte ich schon vorher verkauft. In Wien umgab ich mich mit Leuten, die nicht einmal einen Führerschein hatten, geschweige denn ein Auto. Ich gewöhnte mir den Dialekt ab, sagte genervt „Oida“, wenn in den Nachrichten was über den Ortstafelkonflikt kam. Nur an den Zucker im Salat wollte ich mich nie gewöhnen. Und die promovierten Nadelstreifnazis mit Narben im Gesicht, die mir in der Bundeshauptstadt bisweilen über den Weg liefen, machten mir mehr Angst als die deutschnationalen Brüllaffnigs in Kärnten, die nach dem vierten Bier auf slowenisch fluchten.

Irgendwann wurde es den Leuten ohnehin zu viel mit dem Gerede vom Abwehrkampf. Es brauchte schon ein demagogisches Ausnahmetalent wie Jörg Haider, um den Kärntner Nationalitätenkonflikt am Köcheln zu halten. Seine Nachfolger schafften das nicht mehr. Wenn die Deutschnationalen im braunen Anzug die slawische Gefahr beschworen, hörte ihnen keiner mehr zu. Die alte Leier langweilte. Und Langweilern verzeiht man keine Milliardenhaftungen für faule Kredite der Landesbank, keine Korruptionsskandale. Vielleicht hätten sich die Freiheitlichen in Kärnten an der Macht gehalten, wenn sie den Leuten mit ihrem weltfremden Gelaber von der slawischen Gefahr nicht so auf die Nerven gegangen wären. So aber wurden sie zum Teufel gejagt.

Das war 2013, da hatte ich bereits eine Jahreskarte für die Wiener Linien und dachte, mit Kärnten abgeschlossen zu haben. Und doch erwischte ich mich dabei, nach Beiseln zu suchen, in denen Hirter oder Villacher ausgeschenkt wird, spürte leise Zärtlichkeit hochsteigen, wenn in der U-Bahn-Station vertraute Klänge aus dem Lavanttal oder aus dem Rosental oder aus dem Gurktal oder aus weiß der Teufel welchem Tal zu hören waren: „Ah da Hund he, kennst du di do leicht aus?“

Die Menschen haben sich nicht verändert. Sie sind sprachlos wie eh und je und wenn in ferner Zukunft jemand die richtige Rhetorik für ihren stummen Schmerz findet, werden sie sich vielleicht wieder verführen lassen. Aber einstweilen ist Ruhe eingekehrt und die Demagogen haben Auszeit. Der 100. Jahrestag der Volksabstimmung am 10. Oktober wird als Fest der Zweisprachigkeit gefeiert – so will es die linksliberale Regierung. Vielen ist das recht, den meisten ist es egal, wenige ärgern sich darüber. Am Ende überwiegt hier immer die Obrigkeitshörigkeit. Slowenisch zu können ist jetzt cool. Und das ist schon mehr, als man sich vor 20 Jahren zu hoffen getraut hätte. Wenn sich der morgendliche Herbstnebel vom Wörthersee oder vom Faaker See oder vom Ossiacher See oder von weiß der Teufel welchem See legt, wird die Sicht klarer und der Blick weicher. Es ist ein gutes, ein liebenswertes Land. Das merkt man besonders, wenn man Kärnten verlassen hat.

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Comments (

1

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  1. Franz-Philipp

    Da trifft sich „Daham is am schensten“ mit „es is imma do schena, wo ma net is“.
    Schön, dass es nicht nur mir so geht, wohlgleich ich nicht ganz so viele Kilometer von meinem von meinem „Daham“ weg bin.

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