Alle Parteien verbündeten sich gegen den Kanzler, da alle eine Rechnung mit ihm offen hatten. Der jähe Sturz eines skrupellosen Politikers.
Für: NZZ am Sonntag, 11. Oktober 2021
Er hätte genauso gut über technische Details einer Reform der Unternehmenssteuer reden können. Ruhige Stimme, Blick nach vorne, Handbewegungen wie aus dem Lehrbuch: So kennt man Sebastian Kurz in Österreich und in Europa. Als der junge Kanzler von der konservativen ÖVP am Samstagabend vor die Kameras trat, deutete nichts an seiner Inszenierung darauf hin, dass er gleich seinen Abgang verkünden würde. Aber man ahnte es bereits.
Kurz hatte bloss etwas mehr Make-up im Gesicht. Ein paar Tage zuvor war er bei einem Interview im Fernsehstudio noch rot geworden. Jetzt nicht.
Er habe, räumte der junge Regierungschef ein, vor einigen Jahren Textnachrichten geschrieben, die er heute anders formulieren würde. Das war es auch schon mit Selbstkritik: Die strafrechtlichen Vorwürfe gegen ihn – Untreue und Korruption – seien falsch, er werde alles widerlegen. Nun aber ziehe er sich zurück, wenn auch nur halb. Er bleibt Parteichef und wird als Fraktionsführer der ÖVP in den Nationalrat wechseln. Sein Nachfolger als Kanzler soll Aussenminister Alexander Schallenberg werden, ein früherer Diplomat. Im Falle einer Rehabilitation will Kurz offenbar zurück an die Regierungsspitze.
Dass die knapp fünfminütige Stellungnahme des scheidenden Kanzlers zu Beginn der Hauptnachrichten des öffentlichrechtlichen Fernsehens in Österreich stattfand, war kein Zufall. So wurde sie ungefiltert in der besten Sendezeit übertragen. Noch einmal zeigte Kurz sein Talent zur message control, wie es im österreichischen Politjargon genannt wird: Die Kontrolle über die Stossrichtung der Berichterstattung ist die schärfste Waffe im politischen Arsenal von Sebastian Kurz.
Frisierte Umfragen
Ein Macher-Image, klare Ansagen mit spürbarem Rechtsdrall, gezielte Nadelstiche gegen die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, die ihm zu linkslastig ist: Damit hat der heute 35-Jährige vor einigen Jahren die europäische Bühne betreten. Er galt rasch als grosse Zukunftshoffnung der Konservativen, der einen Weg gefunden hatte, den Aufstieg der Rechtspopulisten zu stoppen: Indem er deren Forderung nach Schliessung der Grenzen kopierte und freundlicher formulierte.
Als bürgerlicher Anti-Merkel strahlte er über Österreich hinaus. Aber nun ist klar, dass ihn seine Erzfeindin in Berlin politisch überleben wird. Bevor die Regierungszeit von Angela Merkel in einigen Wochen endet, ist ihr Widersacher in Wien abgetreten.
Denn gegenüber der Mehrheit im Parlament hilft keine message control. Wäre er am 9. Oktober nicht abgetreten, hätten ihm alle übrigen Parteien das Misstrauen ausgesprochen. Von den rechten Rabauken der FPÖ bis hin zu woken LGBTQ-Aktivisten bei den Grünen waren sich alle einig: Kurz muss weg.
Am Mittwoch, 6. Oktober kam es zu Hausdurchsuchungen im Kanzleramt am Wiener Ballhausplatz und in der Zentrale von Kurz’ Volkspartei, der ÖVP. Die Staatsanwaltschaft glaubt, dass die engsten Vertrauten von Kurz mit seinem Wissen Regierungsgelder veruntreut haben, unter anderem um frisierte Umfragen zu kaufen und im Revolverblatt «Österreich» zu lancieren. Das sollen sichergestellte Chats beweisen. Gut eine Million Euro an Steuergeldern sollen missbräuchlich verwendet worden sein. Untreue und Bestechung lautet der Vorwurf, auf den viele Jahre Haft stehen.
Was diese Mauer im Parlament gegen Kurz zusammenhielt, war allerdings nicht bloss die Entrüstung über den mutmasslichen Rechtsbruch oder die Verächtlichkeit gegenüber staatlichen Institutionen, die sich in manchen Handynachrichten zeigt. Ebenso schwer wiegt, dass man in jeder anderen Partei mit «Basti Fantasti» ein paar Rechnungen offen hat. Und diese wären am Dienstag beglichen worden. Macbeth, letzter Akt, am Wiener Ballhausplatz: Diese Demütigung durch seine Gegner hat sich Kurz mit seinem Rückzug gerade noch erspart. Denn die Zahl seiner politischen Opfer, die auf Revanche sannen, war gross.
«Der politische Mord aus dem Hinterhalt zieht sich durch seine ganze Karriere», sagt der Strategieberater Heimo Lepuschitz über den Kanzler. Als die rechte FPÖ 2017 in eine Regierung mit der ÖVP von Kurz eintrat, wurde Lepuschitz deren Sprecher. Nach nicht einmal zwei Jahren liess Kurz die Koalition platzen. Anlass war die Veröffentlichung des Ibiza-Videos von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache: Der tollpatschige Rechtspopulist war in eine Videofalle getappt und hatte sich nach etlichen Wodka-Red-Bull gegenüber einer angeblichen russischen Oligarchin um Kopf und Kragen geredet.
Kurz habe nach Bekanntwerden des Skandals der FPÖ sein Ehrenwort gegeben, dass die Koalition weitergeführt werde, wenn Strache geopfert werde, erzählt Lepuschitz. Strache trat wie vereinbart ab. Dann aber habe Kurz sein Versprechen gebrochen und Neuwahlen ausgerufen. «Ihm fehlt die Handschlagqualität. Nun werden ihm seine Vertrauensbrüche zum Verhängnis», sagt Lepuschitz.
Davon kann auch die SPÖ ein Lied singen. Noch als Aussenminister torpedierte Kurz von 2016 an die Koalition seiner Partei mit dem roten Bundeskanzler Christian Kern. Gegen bereits beschlossene Neuerungen wie die Förderung der Nachmittagsbetreuung für Kinder mobilisierte Kurz Widerstand aus den Ländern. Nur aus eigenem Interesse, wie Chatnachrichten jetzt zeigen, die Ermittler ausgewertet haben. Die Regierung sollte möglichst schlecht aussehen, damit Kurz als Heilsbringer auftreten konnte. Der Plan ging auf. Auch in der SPÖ-Zentrale sollen diese Woche die Prosecco-Korken geflogen sein, nachdem die Ermittlungen gegen Kurz bekannt wurden.
Auch die Grünen haben ein Opfer zu beklagen: Gesundheitsminister Rudolf Anschober warf im Frühjahr das Handtuch. Gemäss Umfragen war er zu Beginn der Pandemie beliebter als Kurz. Bald darauf begannen heftige Anwürfe vonseiten der ÖVP. Niemand sollte dem Kanzler die Show stehlen. Kurz riss die Impfstrategie an sich, schoss gegen den Minister, als dieser, von der Arbeitslast erschöpft, selbst kurz ins Spital musste.
Und zumindest ein ÖVP-Parteikollege dürfte die jüngsten Entwicklungen mit Genugtuung verfolgen. Der frühere ÖVP-Chef und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner war das erste politische Opfer von Sebastian Kurz. Er hat ein Buch über die «Machtergreifung» seines jungen Rivalen geschrieben, in dem er mit dessen Methoden abrechnete: «Ich sollte für ihn die Koalition aufkündigen und den Schwarzen Peter nehmen, damit er unbefleckt in Neuwahlen gehen könne», heisst es darin. Kurz war not amused über das Buch: Einen «Arsch» nannte er seinen Vorgänger in einer Textnachricht.
«Am Anfang stand ein Vatermord», sagt der frühere FPÖ-Sprecher Lepuschitz. Mitterlehner verstand sich gut mit Regierungschef Kern, einem wirtschaftsfreundlichen Sozialdemokraten. Zu gut nach Ansicht von Kurz, der selbst Kanzler anstelle des Kanzlers werden wollte. Dazu musste er erst ÖVP-Chef werden und die skeptischen Granden seiner Partei davon überzeugen, dass er als Endzwanziger ohne Studienabschluss das Zeug hatte, seine Partei zur Nummer 1 zu machen. Aussenminister Kurz musste Stimmung gegen Mitterlehner machen – und das, ohne sich selbst aus der Deckung zu wagen.
Einer seiner Vertrauten hatte eine Idee, wie sich das bewerkstelligen liesse. Thomas Schmid, damals Generalsekretär im Finanzministerium, beauftragte mit Ministeriumsgeldern eine befreundete Demoskopin mit Umfragen, wonach die ÖVP mit Mitterlehner an der Spitze nur auf 18 Prozent käme, mit Kurz hingegen auf mehr als 30 Prozent. Die Umfrage wurde im Boulevardblatt «Österreich» veröffentlicht, mit dessen Herausgeber Helmut Fellner Schmid bestens verbunden war – nicht zuletzt, weil der Generalsekretär diesem üppige Inserate zukommen liess.
Mobbing über die Bande
Was Kurz nun zum Verhängnis werden könnte, sind seine Chatnachrichten mit Schmid, der dem damaligen Minister ausführlich berichtet: «Gute Umfrage, gute Umfrage», schrieb Kurz. Zwar spekulierten auch andere Zeitungen darüber, dass der junge Aussenminister besser abschneiden würde als der biedere Konsenspolitiker Mitterlehner. So verheerende Werte bekam dieser aber nur in «Österreich».
Das Mobbing über die Bande zog sich über mehrere Monate, ehe Mitterlehner schliesslich aufgab. Kurz übernahm die schlingernde ÖVP und zwang den zerstrittenen Bürgerlichen seinen Willen auf: Selbst die mächtigen Länderchefs mussten ihm Loyalität schwören. Bald darauf provozierte er Neuwahlen, bei denen die ÖVP Nummer 1 wurde. Erst regierte er mit der FPÖ, nach erneuten Wahlen vor zwei Jahren holte er die Grünen in die Regierung. Der mitunter unbeholfen wirkende Vizekanzler Werner Kogler hatte dem ausgefuchsten Machtmenschen Kurz wenig entgegenzusetzen. Zähneknirschend trugen die Grünen den harten Kurs in der Migrations- und Flüchtlingspolitik mit.
Nun war es ausgerechnet der von den Konservativen belächelte Kogler, der Kurz in die Wüste schickte. Denn die Grünen hätten am Dienstag dem Misstrauensantrag gegen Kurz zugestimmt. Dass der ungeliebte Chef in der Koalition nun für Alexander Schallenberg Platz macht, wird viele in der Partei mit Befriedigung erfüllen. Sie hatten sich von der linken Basis allerhand anhören müssen – wegen Kurz und überhaupt wegen der ÖVP.
Als Österreichs Konservative vor 34 Jahren erstmals wieder in eine Regierung eintraten, lag Kurz noch in den Windeln. Seither regiert die ÖVP ununterbrochen – als Kanzlerpartei oder in einer Koalition mit der SPÖ. Und in dieser Zeit hat die Partei tiefe Wurzeln in den Institutionen des Staates geschlagen.
Immer wieder sickerte in den letzten Jahren durch, wie weit die Macht der ÖVP reicht. So wurde bekannt, dass geheimdienstliche Informationen von Mittelsmännern an die Parteizentrale weitergegeben wurden oder ÖVP-nahe Justizbeamte Einfluss auf Ermittlungen gegen Politiker nahmen. Oppositionspolitiker klagen über willkürliche Steuerprüfungen, mit denen sie eingeschüchtert werden sollten.
Es war Kurz, der einen «neuen Stil» versprach und eine saubere Politik. Tatsächlich ist er aber nur ein Kind der ÖVP – und so gesehen ihr begabtestes: Kurz trieb die Machtpolitik an die Spitze. Als Kanzler ist er nun vorerst Geschichte, seine Partei nicht.