Ein paar streng unwissenschaftliche Privatgedanken zum Phänomen der Sofortness.

Ich habe eine kleine Privattheorie ohne große wissenschaftliche Evidenz. Sie geht so: Die Verlockungen der Digitalisierung führen zu einer allgemeinen Verkindlichung der Gesellschaft. Auch Menschen mit faltigen Mundwinkeln und Tränensäcken unter den Augen unterscheiden sich in ihrem Konsumverhalten nur noch graduell von meiner kleinen Tochter, der die Aussicht auf ein Bananeneis in zehn Minuten nicht reicht. Sie wird dann ziemlich grantig und das ist mit drei Jahren wahrscheinlich ganz normal. Früher haben die Leute diese Ungeduld nach dem kleinen Kick des Dopamins mit den Jahren abgelegt: wenn sie die Ausbildung beendet und einen halbwegs vernünftigen Job gefunden haben, Wählen und Autofahren durften, Kinder zeugten, ein Haus bauten. Das hat sich geändert. Selbst erwachsene Menschen sind zunehmend bestimmt von dem unbändigen Wunsch, immerfort zu konsumieren: egal ob es Facebook-Likes sind oder ein Smartphone, das man in der Mitte knicken kann. Dieses Phänomen ist grundsätzlich erforscht. „Sorfortness“ lautet das Stichwort.
Während ich darüber vor einigen Tagen bei einem Espresso am Markt nachsann, lief mir ein mittelalter Mann mit grauen Haaren und rundlichem Gesicht über den Weg, den mein Labrador freudig begrüßte. Mein Hund und ich finden tendenziell dieselben Menschen sympathisch, er zeigt es nur deutlicher. Wir kamen ins Gespräch und der Silberkopf erzählte mir, dass er seit vielen Jahren dasselbe Handy hat, irgend ein iPhone fünf oder sechs, das ihm gute Dienste leistet, weil sein Apple-Computer noch viel älter ist und es ihm nur mit dem Handy gelingt, eine Internetverbindung herzustellen (warum auch immer, die technischen Details tun nichts zur Sache).
Der Mann ist Orchestermusiker, er spielt Bratsche. Ich habe mich noch nie zuvor mit einem professionellen Orchestermusiker über die Digitalisierung unterhalten und war neugierig: Was hat sich in seinem Job verändert? Stellt sich heraus: nichts, also fast nichts. Wenn es eine Änderung der Probezeiten gibt, dann wird das seit einiger Zeit nicht mehr nur am schwarzen Brett des Orchesters angeschrieben sondern auch per Mail kommuniziert. Das habe Vorteile, meinte er. Man spart sich den einen oder anderen Weg. Also schaut er einmal am Tag oder alle zwei Tage mal am Handy nach, ob ein neues E-Mail von der Konzertdirektion gekommen ist. Das reicht, weil es in seiner Branche selten Überraschungen gibt.
Hin und wieder sitzt ein PR-Mensch bei den Proben und filmt ein Video für Facebook und Instagram. Das interessiert die Musikerinnen und Musiker aber herzlich wenig. Sonst läuft im Orchester alles ab wie vor 200 Jahren: Die Instrumente haben sich nicht geändert, der Ablauf der Proben ebensowenig und wenn es mal Zores zwischen Oboe und Geige gibt, dann wird eben gestritten, im Wesentlichen mit denselben Argumenten, die ausgetauscht wurden, als draußen auf der Ringstraße noch Kutschen über das Kopfsteinpflaster klackerten. Ich kenne mich leider fast gar nicht aus mit klassischer Musik. Aber ein Orchester dürfte eine Zeitkapsel sein, ein letzter Rückzugsort der Erwachsenen, die etwas Ordentliches gelernt haben und Besseres zu tun haben, als ständig Likes auf Instagram zu prüfen oder die Sendungsverfolgung ihres Amazon-Pakets.
Wir haben uns nach einer Viertelstunde wieder verabschiedet, in der beidseitig bekundeten Hoffnung, dass wir uns wieder über den Weg laufen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß. Wien ist ein Dorf und wir leben im selben Grätzl. Der graumelierte Bratschist hat mich mit einem guten Gefühl zurückgelassen. Wenn das System kracht, weil es heillos überhitzt ist, dann gibt es zumindest noch ein paar Leute, die vielleicht wissen, was zu tun ist. So wie Vedran Smajlović, der auf den Trümmern der Nationalbibliothek von Sarajevo ein einsames Cello-Konzert gab. Oder Vera Lytovchenko, die in den Luftschutzkellern von Charkiw ihre Geige auspackte.
Wer weiß. Vielleicht wird uns die ernste, erwachsene Musik retten, irgendwann, wenn alles den Bach runtergeht. Wenn Van der Bellen keine andere Wahl bleibt, als statt Frau Bierlein eine Pianistin zur Kanzlerin zu machen und einen Oboisten zum Finanzminister. Wenn die Landwirtschaft nach der der Pfeife eines Flötisten tanzt, bei Klimaschutz und Energie ein unbestechlicher Bass den Ton angibt, während ein brummiger Orgelspieler im Verteidigungsministerium den Banausen im Kreml in die Schranken weist. „In the end, it is beauty, that is gonna save the world now“, singt Nick Cave. Und der weiß vermutlich ziemlich genau, wovon er redet.