Wie viel Neutralität darf es sein? Russlands Krieg in der Ukraine hat die Lieblingsidee der Österreicher ausgehöhlt. Doch der Grossteil der Bevölkerung will das nicht wahrhaben.

Ein Bub steht am Trottoir und schleckt an seinem Cornet. Da tritt ein fremder Mann auf ihn zu, schlägt dem Kleinen auf den Hinterkopf und nimmt ihm das Glace weg. Schnitt. Wenige Meter weiter auf einer Bank sitzt ein grantelnder Wiener, der sich über die beiden «Streithanseln» ereifert und am Ende seiner Tirade ein bekanntes Zitat des Biedermeier-Dichters Franz Grillparzer abwandelt: «Da tritt der Österreicher auf die Seiten, denkt sich sein Teil und lässt die anderen streiten.» Dass Täter und Opfer klar erkennbar sind? Wurscht.

Mit bissigem Humor hat die Kabarettgruppe «Die 4 da» schon vor etlichen Jahren das österreichische Verständnis von Neutralität beschrieben. Die Realität hat die Satire inzwischen eingeholt. Dass die konservativ-grüne Bundesregierung sowie ein grosser Teil der linken und liberalen Opposition politisch klar auf der Seite der von Russland bedrängten Ukraine steht, sorgt in Teilen der Bevölkerung für Unmut. Vor allem die rechten Rabauken von der FPÖ wissen dies für sich zu nutzen.

Die Parteinahme für eine Kriegspartei gezieme sich nicht für ein neutrales Land, moniert Populistenchef Herbert Kickl. Als der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski diese Woche per Videoschaltung zum Nationalrat sprach, verliess Kickl mit seiner Fraktion demonstrativ das Plenum. Aber nicht nur der rechte Rand rebelliert herum. Auch in Teilen der Sozialdemokratie gibt es Unbehagen: Gut die Hälfte der roten Abgeordneten blieben dem Parlament an diesem Tag fern.

Weiterlesen: NZZ Magazin, 1. April 2023

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